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Tötungsdelikt am Nasenweg in Basel

  • Autorenbild: FU
    FU
  • 2. Juli
  • 6 Min. Lesezeit

Rückfall

Am 8. August 2024 tötete ein Patient der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) eine Frau am Wohnort seines Vaters (ich verzichte auf den Hinweis auf die Unschuldsvermutung, weil im vorliegenden Fall völlig klar ist, wer der Täter ist).

 

Genau dort hatte er bereits zehn Jahre zuvor zwei Menschen getötet und eine weitere Person schwer verletzt. Weil er an einer Schizophrenie litt, ordnete das Gericht bei ihm damals eine stationäre psychiatrische Behandlung an. Zehn Jahre lang zeigte sich ein mehrheitlich unauffälliger bzw. für die Behandlung schizophrener Patienten typischer Verlauf.

Der tragische und schwere Rückfall dieses Täters warf fachliche und politische Fragen auf. Zusammen mit Andreas Werren wurde ich von der Basler Regierung beauftragt, den Fall zu untersuchen. 


Es ist darauf hinzuweisen, dass man bei einer solchen Untersuchung immer insofern fair sein muss, dass man von den Informationen ausgeht, die die Klinik haben konnte und nicht von denen, die man später durch den Rückfall hatte.

 

 

Versäumnisse oder erhebliche fachliche Fehler?

 Das wesentliche Ergebnis unserer Untersuchung lautete: 

 

Bei der Behandlung waren Versäumnisse der Klinik festzustellen, die wir aber nicht als ein erhebliches fachliches Fehlverhalten einordneten.

 

Diese Schlussfolgerung ist angesichts des Tötungsdelikts auf den ersten Blick nicht leicht zu verstehen. Denn man fragt sich: Wieso werden Schwachstellen in der Behandlung nur als Versäumnisse und nicht als erhebliche fachliche Fehler bezeichnet, wenn es zu einem Tötungsdelikt gekommen ist?

 

Für diese Bewertung sind zwei Kriterien entscheidend:

 

  • Kausalität der festgestellten Probleme für den Rückfall

  • Verletzung üblicher Standards

 

Kausalität

Eine Kausalität besteht, wenn die festgestellten Probleme in einer ursächlichen Beziehung zum Rückfall stehen. Also wenn man sagen würde:

Ohne die festgestellten Probleme wäre es nicht zum Rückfall gekommen. Oder: Ohne die festgestellten Probleme hätte eine nennenswerte Wahrscheinlichkeit bestanden, den Rückfall zu verhindern. 

Die Kausalität besteht nicht, wenn es unabhängig von den festgestellten Problemen (also auch ohne diese Probleme) wahrscheinlich zum Rückfall gekommen wäre.

 

Verletzung von Standards

Eine Verletzung üblicher Standards liegt dann vor, wenn das Vorgehen der Klinik den gängigen und akzeptierten Vorgehensweisen in einem solchen Fall widerspricht.

 

Das heißt: Wenn die festgestellten Probleme die oder eine Ursache für den Rückfall waren, dann sind sie schwerwiegend. Schwerwiegend sind sie auch, wenn es sich bei den Problemen um einen Verstoß gegen gängige und akzeptierte fachliche Standards handelt.

 

Demnach wären die von uns festgestellten Kritikpunkte dann ein erhebliches fachliches Fehlverhalten, wenn sie im Hinblick auf eines der beiden Kriterien oder sogar beiden Kriterien (Kausalität und Standards) gravierend wären. Wir sind aber zum Schluss gekommen, dass die Kausalität für den Rückfall nicht in ausreichender Weise besteht und das trotz der festgestellten Probleme insgesamt nicht von einer Verletzung gängiger Standards gesprochen werden kann. 

 

Das ist der Grund, warum wir die Probleme als Versäumnisse bezeichnet haben, nicht aber als ein erhebliches fachliches Fehlverhalten.

 

Wenn es ein erhebliches fachliches Fehlverhalten gewesen wäre, dann hätte das haftungsrechtliche oder strafrechtliche Konsequenzen haben können (zum Beispiel in Bezug auf Fahrlässigkeit oder grobe Fahrlässigkeit). Das war aber hier nicht der Fall.  

 

 

Welche Probleme gab es?

Aber welche Probleme wurden nun in unserer Untersuchung festgestellt? Hierzu nachfolgend Auszüge (zum Teil leicht angepasst) aus meinem Gutachten:

 

Es gab folgende drei Probleme:

  

  • Unscharfer Deliktmechanismus


  • Risikorelevanz des Tatorts


  • Selektive Offenheit und Kooperation seitens des Täters

 

Diese Probleme machten den Fall für eine Behandlungseinrichtung zu einem komplizierten und tückischen Fall. Es ist die Kombination und die Wechselwirkung dieser drei Probleme, die im vorliegenden Fall als kritisch einzuschätzen sind. Dies würde auch gelten, ohne dass es zu einem Rückfall gekommen wäre.

 

Unscharfer Deliktmechanismus

Es ist nachvollziehbar, dass die Symptome der diagnostizierten Schizophrenie als wesentliche Ursachen für die Delikte 2014 betrachtet wurden. Von Anfang an blieb aber unklar, welche dieser Symptome auf welche Weise zu den Tötungsdelikten führten. 

 

Von besonderer Bedeutung ist hierbei vor allem eine Frage. Es handelt sich um die Frage, warum XX das erste Todesopfer wurde. Konkret geht es um die Frage, wie XX in das Wahnsystem einging (Eintritt bzw. Einbindung in das Wahnsystem) und dadurch eine auf sie gerichtete Motivation entstand, sie zu töten. Damit verbunden ist die Frage, ob und inwieweit eine spezifische wahnhafte (oder zusätzlich andere) Motivation bestand, an diesem Ort, diese konkrete Person zu töten und ob daraus ein Fortsetzungsmotiv resultierte. Es gibt aus der damaligen Untersuchung und der aktuellen Strafuntersuchung Hinweise in diese Richtung.

Von besonderer Bedeutung ist die damit in Zusammenhang stehende Bemerkung des Täters von 2014, dass er weiter (bzw. mehr) Menschen habe töten wollen/müssen. Gerade diese Äusserung wirft die Frage auf, ob es offensichtlich, subtil oder im Hintergrund aus wahnhaften Gründen ein Fortsetzungsmotiv gab.

 

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Deliktmechanismus von Anfang an unscharf war. 

 

Man kann die Ausgangslage mit einer Metapher verdeutlichen. Sie ist vergleichbar mit einer Situation in einem Fussballspiel, bei dem der Spielzug, der zu einem Tor führte, bis zum Strafraum gut sichtbar und klar ist. Wie der Ball dann aber in der Endstrecke vom Strafraum in das Tor gelangte, ist nicht bekannt. Darum bleiben für diese letzte und damit entscheidende Phase der Umsetzung verschiedene Varianten offen, ohne dass der genaue «Mechanismus» geklärt werden könnte.

Für den Deliktmechanismus bedeutet diese Unschärfe, dass möglicherweise einige relevante Risikofaktoren nicht bekannt waren. 

 

Als problematisch ist anzusehen, dass die Unschärfe und die damit verbundenen Implikationen und offenen Fragen in den vorliegenden Berichten der Klinik nicht erwähnt wurden. Es wird zwar während der gesamten Behandlungsdauer zurecht darauf hingewiesen, dass eine Zunahme wahnhafter Symptome der Schizophrenie risikoerhöhend ist. Die Unschärfe und die dadurch bestehenden offenen Fragen werden aber an keiner Stelle explizit thematisiert. Das wiederum hat die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht, dass die Frage, ob der Tatort in risikoerhöhender Weise mit dem Wahnsystem des Täters verknüpft war, nicht berücksichtigt wurde.

Durch den Rückfall konnte bestätigt werden, dass die im Rahmen des unscharfen Deliktmechanismus verfolgte Fallhypothese (Phasenmodell) falsch war, weil statt eines Phasenmodells eine (konstante) deliktrelevante Nebenrealität bestand, die unabhängig von psychopathologischen Krisen war.

  

Risikorelevanz des Tatorts

Die Unschärfe des Deliktmechanismus führte zu einer Reihe offener Fragen. Sehr bedeutsam ist dabei der Aspekt des unscharfen Deliktmechanismus, der eine mögliche Risikorelevanz des Tatorts betrifft. Dieser Aspekt wurde in der Klinik nicht erkannt und demzufolge auch nicht diskutiert.

Auch hier zeigte sich durch den Rückfall, dass der Tatort eine kontinuierliche Risikorelevanz hatte und es ein mit dem Tatort verbundenes Fortsetzungsmotiv gab.

 

Selektive Offenheit und Kooperation

Ab 2021 war klar, dass beim Täter nicht mehr davon ausgegangen werden konnte, dass er das Wiederauftreten von risikorelevanten Symptomen proaktiv berichten würde. Vielmehr war zu erwarten, dass er Symptome und risikorelevante Entwicklungen verbergen würde.

Das war den Behandlern in der UPK bekannt und wurde auch immer wieder dokumentiert. In Kombination mit den beiden anderen Problempunkten erschwerte es die selektive Offenheit und Kooperation aber zusätzlich, die konstante Nebenrealität zu erkennen.

 


Zusammenfassung 

Es gibt somit drei Problempunkte, die sicher festgestellt werden konnten.

 

Dass es sich bei diesen Problemen „nur“ um Versäumnisse handelt, heißt nicht, dass diese Schwachpunkte unproblematisch und zu vernachlässigen sind. Es war nicht gut, dass man die Unschärfe des Deliktmechanismus nicht erkannt hatte. Es war nicht gut, dass man nicht an die mögliche Risikorelevanz des Tatortes gedacht hatte. Und weil es nicht gut war, haben wir diese Versäumnisse in unserem Bericht kritisiert.

Aber weil der Täter im Alltag zehn Jahre völlig unauffällig war, war es sehr schwierig zu erkennen, dass der verfolgte Deliktmechanismus (Phasenmodell) falsch war. Er war falsch, weil man davon ausging, dass der Täter nur in einer akuten Phase mit psychotischen Symptomen (als Folge der Schizophrenie) gefährlich sei, so wie das bei den Ursprungsdelikten 2014 der Fall war. Man ging damit umgekehrt davon aus, dass das Risiko gering sei, wenn solche Symptome nicht vorhanden waren.

Man verfolgte also dieses falsche Phasenmodell : Wenn sich (so wie 2014) psychotische Symptome zeigen = hohes Risiko.  Wenn solche Symptome nicht auftreten = geringes Risiko.  


Aber es gab eine kontinuierliche Nebenrealität, die der Täter zehn Jahre verbarg und für sich behielt. Deswegen war es sehr schwierig, das zu erkennen. Wenn ich sage, es war sehr schwierig zu erkennen, heißt das aber auch: Es war nicht unmöglich, das zu erkennen. Aber sehr schwierig zu erkennen, bedeutet: Der Fall wäre in vielen anderen gut geführten Kliniken genauso behandelt worden. Deswegen kann nicht von einer Verletzung geltender Standards gesprochen werden. Darum waren die festgestellten Probleme zwar Versäumnisse. Aber die Grenze für ein erhebliches fachliches Fehlverhalten wurde nicht überschritten. 


Das, was ich hier beschrieben habe, ist schwer zu vermitteln. Wenn man hört, dass es bei einer Behandlung fachliche Kritikpunkte gibt und dass der Täter rückfällig wurde und ein Tötungsdelikt verübt hat, ist es schwer verstehen, dass diese Kritikpunkte kein erhebliches fachliches Fehlverhalten sind, sondern nur Versäumnisse. 

 

Ich habe versucht zu erklären, warum das im vorliegenden Fall so ist. Das Ergebnis des Untersuchungsberichts bedeutet aber nicht, dass es kein Problem gibt und man zur Tagesordnung übergehen kann. Der Basler Gesundheitsdirektor Lukas Engelberger hat es richtig gesagt. Es wäre sinnvoll, wenn sich die Klinik und auch andere Fachleute mit dem Fall und dem Untersuchungsbericht auseinandersetzen, um in Zukunft und bei anderen Fällen ähnlich blinde Flecken wie in diesem Fall zu vermeiden. 

 

 

 Der Untersuchungsbericht ist übrigens unter dem nachfolgenden Link abrufbar:


1 Comment


Jeanne D'Orlean
Jeanne D'Orlean
vor 4 Tagen

Sehr geehrter Herr Urbaniok

Vielen Dank für das Veröffentlichen des Berichts, ich finde das sehr demokratisch und die Einsicht in den Fall schützt vor voreiligen Schuldzuweisungen. Nach dem Lesen des Berichts stellte ichmir die Frage, warum der Vater die Wohnung nach der ersten Tat nicht verlassen hat, als Elternteil eines schwerkranken Sohnes hätte ich das gemacht. Schön dass der Deliktmechanismus nach 10 Jahren doch noch geklärt wurde, d.h. dass der Täter sich öffnen konnte und die Nebenwelt kommuniziert hat. Respekt für die Vertrauensbeziehung, die mit dem Täters nach der 2. Tat aufgebaut werden konnte. Respekt für Ihre Arbeit und die Leistungen der Kliniken.

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