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Das Schweigen der Bären

Aktualisiert: 12. Dez. 2020

Zum 40jährigen Jubiläum hat der Zytglogge-Verlag 2005 einen Sammelband mit 20 surrealistischen Bildern des interessanten Malers Dieter Leuenberger herausgebracht (Dieter Leuenberger: Aus der Welt. Zytglogge -Verlag, 2005).

Zu jedem Bild hat ein Autor/eine Autorin einen Text verfasst. Ich hatte es mit der furchterregenden Maus zu tun …


(Bild: Dieter Leuenberger 2005, https://www.dieterleuenberger.ch)


Das Schweigen der Bären

Leere Blicke, mechanische Gesten, seelenlose Naivität; so sitzen sie, einer neben dem anderen. Sie scheinen die sadistische Grossohrenmaus, die einmal mehr einem von ihnen das Schlachtermesser mit Genuss und Erregung ins Herz und die Eingeweide treibt, nicht zu bemerken. Ist es verachtenswert, dass sie die Gefahr nicht sehen wollen? Geschieht es ihnen ob ihrer Feig- und Sorglosigkeit nicht recht, geschlachtet zu werden? Erfüllt das Grossohr am Ende nicht einen Dienst, diese Evolutionsversager an der Weitergabe ihres defizitären Erbgutes zu hindern? Und was gehen uns überhaupt diese verdammten Bären mit ihren glasigen Augen an?


Sowieso ist es ratsam, einen Bogen um die Schwachen und Hilflosen zu machen. Sie könnten um Hilfe bitten. Sie bringen uns nicht zum Lachen. Sie könnten uns anstecken mit ihrer Ohnmacht, uns selber zu Verlierern machen. Lieber einen Bogen um die Bären machen.

Das war nicht immer so. Was haben wir am Anfang nicht alles für sie getan! Ihnen den unproduktiven Winterschlaf abgewöhnt, sie unabhängig von mühsamer Futtersuche in erbarmungsloser Wildnis gemacht, ihnen geholfen, das Image des unzivilisierten Barbaren los zu werden, sie sogar auf den Namen eines Präsidenten umgetauft, sie als Spielkameraden in den Zimmern und Betten unserer Kinder willkommen geheissen, sie gedrückt, ihnen sogar das Wertvollste gegeben, das wir geben können: Liebe.

Trotzdem ist es ihnen bis heute - von Einzelfällen abgesehen - nie gelungen, in unserer zivilisierten Gesellschaft Fuss zu fassen und die ihnen sattsam gebotenen Chancen zu nutzen. Nach kurzer Zeit hatten sie bereits die Nahrungssuche unter freiem Himmel gänzlich verlernt oder aus Bequemlichkeit aufgegeben. Da mag es nicht verwundern, dass viele von ihnen als gescheiterte Existenzen enden oder gar noch nie etwas anderes gewesen sind. Nicht wenige landen mit abgetrennten Gliedmassen in unaufgeräumten Ecken, Kellern oder auf Müllkippen. Einige von ihnen verlassen noch in jungen Jahren die Gastfreundlichkeit unserer Wohnstuben und versuchen, sich auf eigene Faust durchs Leben zu schlagen. Sie vagabundieren als einsame Wanderer von Ort zu Ort, fristen in Grossfamilien ein kümmerliches Dasein oder träumen in oberflächlicher Zufriedenheit als Mitglieder loser Gruppenverbände in den Tag hinein. Kein Wunder, dass sie Opfer von Trickbetrügern, dogmatischen Polit- und Religionsführern oder sadistischen Mäusen werden.


Selbstverständlich sind die widerwärtigen Schlachtorgien der Grossohren abstossend und verwerflich. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass auch die Maus ein Geschöpf Gottes ist und darum eine zweite, dritte, vierte, fünfte und wenn es denn am Ende zum Ziel führt, auch eine sechste und siebte Chance verdient. Es ist die Fähigkeit zur Vergebung und Versöhnung, die uns von niederen Lebensformen unterscheidet. Ohne die Gewährung von Gnade, ohne die Begabung, die Möglichkeit zur guten Wendung in jeder noch so verabscheuungswürdigen Handlungsweise erkennen zu können, wäre die Welt ein deprimierender Ort. So wird denn auch derjenige, der vergeben, versöhnen und vergessen kann, selbst am reichlichsten beschenkt. Er erhält als Gegenleistung seiner edlen Haltung die gute und die heile Welt zurück, die durch die Bluttat Schaden zu leiden drohte. So ist es denn auch von dieser Betrachtungsweise her geboten, sich den mordenden Mäusen nicht allzu unversöhnlich in den Weg zu stellen.


Und wenn die Bären nicht wollen oder nicht können, dann tragen sie selbst einen Teil der Schuld an dem, was geschieht.

Viele mehr als gute Gründe also, sich nicht in fremde Händel einzumischen. Hier kann und darf es darum nur eine Lösung geben: Umblättern!

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