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Sterbehilfe

Aktualisiert: 21. Jan. 2023

In der Schweiz existiert eine liberale Praxis der Sterbehilfe (Freitodbegleitung, Sterbebegleitung, assistierter Suizid). Das führt unter anderem auch dazu, dass Sterbewillige aus anderen Ländern in die Schweiz kommen, um die Dienste der hiesigen Sterbehilfeorganisationen in Anspruch zu nehmen. Die größte dieser Organisationen EXIT zählt mehr als 135.000 Mitglieder und setzt sich laut eigenen Angaben «für die Eigenverantwortung in der letzten Phase des Lebens und generell für Hilfe an leidenden Menschen ein.» Die wichtigste Dienstleistung für die Mitglieder von EXIT ist die sogenannte Freitodbegleitung.

Auch in der Schweiz ist diese Freitodbegleitung ein gesellschaftlich stark umstrittenes Thema. Ebenso wie in vielen anderen Ländern lassen sich in den oft hitzig geführten Diskussionen zwei Extrempositionen beschreiben.


Extremposition 1: Die Fundamentalkritik an der Freitodbegleitung

Viele Ärzte und religiös geprägte Kreise melden grundsätzliche Bedenken an. Es seien fundamentale ethische Fragestellungen berührt und es wird generell angezweifelt, ob die Sterbehilfe überhaupt eine wünschenswerte Option für sterbewillige Personen sein kann. Hier werden unter anderem folgende Argumente ins Feld geführt: Es stehe dem Menschen, dem sein Leben (zum Beispiel von Gott) geschenkt sei, gar nicht zu, es aufgrund einer eigenen Entscheidung zu beenden. Bisweilen werden Betroffenen sogar egoistische oder selbstsüchtige Motive unterstellt. Die Legitimität von Freitodentscheidungen wird als Übersteigerung des Selbstbestimmungsrechts und als eine Fehlentwicklung unserer Zeit angesehen. In der etwas moderateren Variante der fundamentalen Kritiker wird zwar eingeräumt, dass es Einzelfälle geben könne, in denen die Selbsttötung legitim sein könnte. Für (sehr) viele andere Fälle gebe es aber menschlichere und darum bessere Lösungen. Verwiesen wird dann zum Beispiel darauf, dass eine ausgebaute und überall verfügbare Palliativpflege den Suizid wenn auch nicht in allen, so doch in den meisten Fällen überflüssig machen würde. Ferner wird vermutet, dass Angehörige häufig einen unzulässigen Druck auf den Sterbewilligen ausüben oder dass Sterbewillige aufgrund fehlender Betreuung aus dem Leben scheiden wollen. Sie kämen sich überflüssig vor und würden den Angehörigen nicht zur Last fallen wollen.

All den Kritikern, die aus fundamentalen - zumeist weltanschaulichen - Einwänden das Ziel verfolgen, Freitodbegleitungen entweder zu verbieten oder auf sehr wenige Ausnahmefälle zu beschränken, ist eines entgegenzuhalten.

Es ist ein anmaßender Übergriff auf die Selbstbestimmung und Würde eines Menschen, ihm die Entscheidungsfreiheit darüber abzusprechen, sein eigenes Leben zu beenden. Dabei steht die grundlegende Argumentationslinie in der unseligen Tradition einer totalitären missionarischen Grundhaltung. Es ist zwar jedem Menschen unbenommen, sein eigenes Leben nach weltanschaulichen, religiösen und persönlich moralischen Grundsätzen auszurichten, sofern er damit nicht Recht und Würde seiner Umwelt und anderer Menschen verletzt. Es ist aber ein illegitimer und totalitärer Akt, diese Prinzipien auf andere Menschen und ihre persönlichen Lebensentscheidung auszudehnen und ultimativ einzufordern. Denn es ist offensichtlich, dass man hier nicht im Sinn hat, die Bedürfnisse und das Selbstbestimmungsrecht anderer Menschen zu achten. Vielmehr geht es darum, das eigene Weltbild in absoluter Weise zu generalisieren und dadurch zu stärken, indem es anderen Menschen gegen deren Willen übergestülpt wird. Das haben viele Religionen und totalitäre politische Ideologien seit Jahrtausenden praktiziert und damit viel Unheil in die Welt gebracht - selbstverständlich immer mit der edlen Maxime, dass solches nur zum Allerbesten der betroffenen Menschen geschehen sei. Bis heute geht es dabei aber um nichts anderes als um Gedanken- und Verhaltenskontrolle von Menschen und in der Folge um Machtausübung. Bezeichnenderweise hat sich missionarischer Eifer schon immer bevorzugt den höchstpersönlichen und existenziellen Lebensäußerungen von Menschen gewidmet. Ein seit Jahrtausend bewirtschafteter Dauerbrenner sind Traktate über richtige, normale und vor allem nicht als sündhaft zu klassifizierende Formen sexueller Betätigungen. Aber auch unverrückbare Prinzipien über richtige, falsche, legitime und illegitime Arten des Sterbens sind hervorragend geeignet, sich selbst in einer moralisch überlegenen Position zu verorten, von der aus sich andere Menschen trefflich bevormunden und maßregeln lassen.

Ich spreche mich mit dieser Position selbstverständlich in keiner Weise dagegen aus, Palliativangebote auszubauen, unzulässige Einflussnahmen von Angehörigen oder anderen Personen zu unterbinden oder Menschen mit schweren Erkrankungen oder existenziellen Lebenskrisen die adäquate Behandlung, Betreuung und Unterstützung zukommen zu lassen. All diese berechtigten Punkte aber für einen Gegenangriff gegen die Praxis und Legitimität der Freitodbegleitung zu instrumentalisieren, ist ebenso falsch wie kritikwürdig.


Extremposition 2: Die Verabsolutierung jedes Sterbewunschs

Eine Extremposition findet sich aber nicht nur auf der Seite der Kritiker, sondern auch im Lager der Befürworter der Freitodbegleitung. Ihre Exponenten neigen dazu, den Sterbewunsch Betroffener ohne weitere, notwendige Differenzierungen absolut zu setzen. Unhinterfragt wird hier jeder Sterbewunsch als ein Auftrag verstanden, bei dem es allein darum geht, ihn durchzusetzen und damit das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person gegen Angehörige, andere Bremser und illegitime Kritiker zu verteidigen.


Die Gefahren der Extrempositionen

Beide Extrempositionen werden der Komplexität des Themas nicht gerecht. Sie können zu tragischen Fehlern führen und viel Leid verursachen.

So führt die Fundamentalkritik zum Beispiel dazu, dass professionelle Angebote für die Freitodbegleitung behindert werden und dass die Situation von Betroffenen möglicherweise beschwert wird, indem bei ihnen Schuldgefühle und Angst verursacht werden. Die andere Extremposition kann dazu führen, dass notwendige Differenzierungen und Abklärungen unterbleiben und eine Person zum Beispiel aufgrund krankheitsbedingter Einschränkungen ihrer Urteilsfähigkeit einen falschen Entscheid fällt, der nicht mehr umzukehren ist. Das klassische Beispiel für diesen Fall ist eine passagere Depression, in der es zu einer erheblichen Übersteigerung von Ängsten, Pessimismus und Hoffnungslosigkeit kommt. Die Symptome verzerren die Beurteilungsgrundlage des Betroffenen. Sie sind aber nicht von Dauer und der Sterbewunsch löst sich in dem Moment in Luft auf, in dem die depressive Phase überwunden ist.


Selbstbestimmungsrecht als sinnvolle Maxime

Ich trete vehement für das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht bei Freitodentscheidungen ein und halte das Wirken von Organisationen wie der Schweizer Sterbehilfeorganisation EXIT für sehr wertvoll. Solche Sterbehilfeorganisationen eröffnen sterbewilligen und häufig sehr belasteten Menschen einen geregelten und gangbaren Weg, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Dadurch wird verhindert, dass Menschen sich gezwungen sehen, sich von einer Brücke oder vor einen Zug zu werfen, um ein Leben beenden zu können, das sie aufgrund einer freien und selbstbestimmten Entscheidung nicht mehr fortsetzen wollen. Ebenso tragisch ist, wenn Betroffene - aus welchen Gründen auch immer - nicht (mehr) über eine solche Option verfügen und in der Folge dazu verdammt sind, in einem als qualvoll wahrgenommenen Leben ausharren zu müssen, das ihnen durch die Umstände gegen ihren Willen aufgezwungen wird.


Ich bin auf der anderen Seite aber auch der Meinung, dass vor allem bei komplexen und/oder umstrittenen Fällen die Urteilsfähigkeit Betroffener sorgfältig abgeklärt werden muss. Denn es ist sicherzustellen, dass es sich tatsächlich um eine freie und gleichzeitig nachhaltig-tragfähige Willensentscheidung handelt. Das bedeutet, dass eine Person für diesen Entscheid soweit über intakte psychische Funktionen verfügen muss, dass es ihr auf der Grundlage realitätsbezogener Wahrnehmungen und Fähigkeiten zur Urteilsbildung möglich ist, einen Willen zu bilden und basierend auf diesem Willen eine Entscheidung zu treffen.


Die hier angesprochene Problematik einer abklärungsbedürftigen Urteilsfähigkeit wird in dem lesenswerten Artikel von Barbara Lukesch illustriert, der im Magazin «Republik» erschienen ist.



Fehler sind möglich, aber ...

Fehler können selbstverständlich überall vorkommen, wo Menschen arbeiten. Es ist dann wichtig, diese nicht unter den Teppich zu kehren, sondern daraus zu lernen und besser zu werden. Solche Fehler sollten aber nicht dafür benutzt werden, das Kind mit dem Bade auszuschütten. In diesem Sinne kann ich mich dem nachfolgenden Kommentar eines Followers meines Twitter Accounts abschließen, der zum Artikel von Barbara Lukesch Stellung genommen hat:



Schlussbetrachtung

Um meine Position abschliessend noch weiter zu verdeutlichen, möchte ich zu zwei Argumenten Stellung nehmen, die im Artikel genannt werden.

Mein Freund, der ehemalige I. Staatsanwalt des Kantons Zürich, Andreas Brunner, mahnt im Artikel verstärkte gesetzliche Regelungen an. Zudem sieht er auch im Hinblick auf finanzielle Interessen von Sterbehelfern mögliche Gefahren. Beide Argumente werden spontan bei vielen Menschen auf Zustimmung stoßen. Sie dürfen aus meiner Sicht aber nicht unwidersprochen bleiben.


Ich kann nicht beurteilen, ob bei dem einen oder anderen Sterbehelfer finanzielle Interessen eine Rolle spielen oder nicht. Ich bin aber sicher, dass sich zumindest die Mehrheit der Sterbehelfer dieser schwierigen und wertvollen Arbeit nicht aufgrund solcher finanzieller Interessen annimmt. Wenn es dort Fehlverhalten und Missstände gibt, müssen sie aufgedeckt und dann auch konkret benannt werden. Aber solche Verdächtigungen ohne Belege einfach mal so beiläufig in den Raum zu stellen, stellt Sterbehelfer unter einen unzulässigen Generalverdacht und ist Stimmungsmache.


Auch das andere Argument teile ich nicht. Immer, wenn es um schwierige und insbesondere umstrittene gesellschaftliche Fragen geht, zaubern viele Juristen eine Universallösung aus dem Hut. Mehr Gesetze, mehr Regeln, mehr Kommissionen und Überwachungen. Häufig wird unter dem Strich dadurch aber in den Kernpunkten gar nichts besser. Man kann sich aber sicher sein, dass im Zuge einer solchen Anreicherung durch juristische Regeln und Sichtweisen zu den bereits bestehehenden Problemen viele neue juristische Probleme hinzukommen.

Ich sehe daher die Lösung der angesprochenen Herausforderungen nicht darin, über die schon vorhandenen allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen hinaus - zum Beispiel Fahrlässigkeitsdelikte - spezialgesetzliche Regelungen für den Bereich der Sterbehilfe zu schaffen. Und wenn es dennoch unbedingt sein muss, dann würde ich stark für rudimentäre und sehr grobe Leitlinien plädieren. Denn es sollte im Sinne der Betroffenen den in diesem Feld tätigen Organisationen der Spielraum dafür gelassen werden, angemessene Lösungen im jeweiligen Einzelfall zu finden. Die Orientierung an eigenen professioneller Maßstäben ist hierbei ebenso sinnvoll wie eine wirksame Fehler- und Optimierungskultur, durch Schwachstellen beseitigt und Prozesse optimiert werden. Ich warne aber davor, diesen Bereich nach dem Gießkannenprinzip mit einer Armada von Fachleuten, Gutachtern, Kommissionen oder juristischen Verfahrensschritten aufzurüsten. In den vielen Fällen, in denen die Sachlage klar und die Urteilsfähigkeit unbestritten ist, braucht es keine spezialisierten Abklärungen. In diesen Fällen sollte man es den Betroffenen nicht durch zusätzliche Hürden und Bürokratie schwerer machen, als es nötig ist.

Es wird aber auch immer andere Fälle geben, die zum Beispiel im Kreise der Angehörigen sehr umstritten sind und/oder bei denen es Hinweise darauf gibt, dass die Urteilsfähigkeit genauer geprüft werden müsste. Das sind die Fälle, in denen ohne zeitliche Hast Sorgfalt oberstes Gebot sein sollte. Hier haben Abklärungen und möglicherweise in bestimmten, komplexen Einzelfällen auch einmal professionelle Beurteilungen der Urteilsfähigkeit ihren Platz.


Ich finde, die Schweiz kann sich im Vergleich zu vielen anderen Ländern, in denen sich die Sterbehilfe oft in problematischen Grauzonen bewegt, glücklich schätzen, dass es Sterbehilfeorganisationen wie EXIT und eine in weiten Teilen pragmatischen Umgang mit diesem schwierigen Thema gibt. Das Schweizer Modell könnte daher aus meiner Sicht auch für andere Länder ein Vorbild für Lösungen sein, die vor allem an den Interessen und Bedürfnissen der Betroffenen orientiert ist.


Hier noch ein Podcast-Beitrag zum Thema 👉







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