Wenn es zu einer schweren Straftat kommt, lautet die erste Reaktion oft: "Wer so was macht, der muss doch psychisch krank sein." Diese Meinung ist zwar verständlich. Denn wenn man den Täter als psychisch krank klassifiziert, dann wird das Unfassbare damit scheinbar eingeordnet. Es gibt eine heile Welt, unsere Welt. Und dann gibt es halt kranke Menschen, die schreckliche Dinge tun. Diese scharfe Grenze zwischen den Gesunden, die ungefährlich sind und den gefährlichen Kranken, schafft eine Ordnung und hat etwas Beruhigendes. Normale Menschen tun doch keine bösen Dinge.
Nun ist diese psychologisch naheliegende Meinung aber falsch, denn Krankheit und Gefährlichkeit sind zwei unterschiedliche Phänomene. Diese Tatsache und deren weitreichenden Folgen lege ich seit mehr als 25 Jahren dar. Denn sie spielt auch in der Fachwelt eine Rolle. Nicht wenige Gutachter konzentrieren sich bei ihrer Arbeit einseitig darauf, eine psychische Erkrankung zu suchen und zu diagnostizieren. Gemäss den gängigen Systemen zur Diagnose von psychischen Erkrankungen gibt es aber sehr viele Straftaten, die gar nichts mit einer solchen psychischen Erkrankung zu tun haben. Selbst in den Fällen, in denen beim Täter eine psychische Erkrankung diagnostiziert werden kann, haben solche Diagnosen entweder gar keinen Erklärungswert für die Straftat oder der Zusammenhang ist viel zu grob, um die Straftat gut zu erklären. Das ist auch kein Wunder. Denn die Systeme, die zur Diagnose von psychischen Erkrankungen geschaffen wurden (ICD* und DSM**), sind ja gar nicht dafür konzipiert, Gefährlichkeit bzw. gefährliche Eigenschaften von Menschen zu erkennen.
[*World Health Organization, International statistical classification of diseases and related health problems, Geneva, 2004.]
[** American Psychiatric Association, Diagnostic and statistical manual of mental disorders (DSM-5), Arlington, VA, 2013.]
Deswegen ist die einseitige Ausrichtung auf allgemeine psychische Störungen eine bedeutsame Fehlerquelle in Gutachten, die über Straftäter erstellt werden. Denn für das genaue Erkennen der "risikorelevanten Eigenschaften" einer Person sind allgemeine psychische Diagnosesysteme unspezifisch. Um das Risikoprofil eines Täters herauszuarbeiten, sind diese Systeme daher in vielen Fällen völlig ungeeignet und selbst in den Fällen, in denen tatschlich eine psychische Erkrankung vorliegt, meist viel zu grob.
Das ist vergleichbar mit folgender Situation: Ein Forscher setzt sich in ein Beobachtungszelt, um im Wald nachts Tiere zu beobachten. Er setzt seine Lesebrille auf, denn er hat die Erfahrung gemacht, dass er mit seiner Lesebrille die Buchstaben genau erkennen kann, wenn er Bücher liest. In der Nacht sieht er einen Elch und einen Hasen, die direkt wenige Zentimeter vor ihm auftauchen und länger an einem Ort verharren. In der Entfernung hat er in der Nacht noch grob 3 schattenhafte Silhouetten erspäht. Die waren aber wirklich nicht gut zu erkennen. Viel zu unscharf und es war ja auch stockdunkel. Nach langem Überlegen geht er davon aus, dass es sich zweimal um Wildschweine und einmal um einen Fuchs gehandelt hat. Ein Wildschwein hat er in der Tat richtig klassifiziert, das andere Wildschwein war aber in Wahrheit ein Hirsch und der Fuchs eigentlich ein Biber. Das hat ein anderer Forscher zutreffend gesehen, der ein Nachtsichtgerät benutzt hat. Der hat zudem in der Nacht 20 weitere Tiere gesehen, die sein Kollege mit dem sehr eingegrenzten und unscharfen Fokus der Lesebrille gar nicht sehen konnte.
Ich will das Beispiel hier nicht überstrapazieren, aber festhalten: Psychische Erkrankungen und Risikoeigenschaften, die etwas mit der Gefährlichkeit von Menschen zu tun haben, sind zwei unterschiedliche Phänomene. Deswegen sind allgemeine und für forensische Zwecke unspezifische psychiatrische Diagnosesysteme vergleichbar mit der Lesebrille, mit der man in die dunkle Nacht starrt. Die Risikoeigenschaften einer Person sind dadurch meist nicht zu erkennen. Es sind aber genau diese Risikoeigenschaften, mit denen Straftaten erklärt und zukünftige Risiken zuverlässig eingeschätzt werden können.
Genau das ist der Grund dafür, warum ich das Forensische Operationalisierte Therapie-Risiko-Evaluations-System (FOTRES) entwickelt habe. Denn FOTRES ist ein eigenständiges diagnostisches System, bei dem es nicht darum geht, eine Krankheit zu diagnostizieren, sondern das Risikoprofil einer Person zu erkennen. Zu diesem Zweck gibt es in FOTRES gegenwärtig 104 potentielle Risikoeigenschaften. Manche haben Überschneidungen zu psychiatrischen Diagnosen, viele haben aber mit psychiatrischen Diagnosen überhaupt nichts zu tun.
Rund um dieses Thema gibt es in der Fachwelt nach wie vor zum Teil erbitterte Kontroversen. Ich befinde mich heute mit meiner Meinung nicht mehr in einer Exotenposition. Ich würde aber auch nicht behaupten, dass mir in diesem Punkt die Mehrheit meiner psychiatrischen Kollegen folgt. Ich will das angesprochene Thema an dieser Stelle nicht weiter ausführen, hier aber drei Zeitungsartikel und eine Fachpublikation zur Verfügung stellen, mit denen sich die Diskussion und die wesentlichen Argumente und Gegenargumente nachvollziehen lassen. Wie immer ist das Ziel, dass sich diejenigen, die sich mit dem Thema vertieft beschäftigen wollen, eine eigene Meinung bilden können.
Ein sehr wichtiges Thema!