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Die politische und mediale Instrumentalisierung von Einzelfällen

Aktualisiert: 12. Dez. 2020

Wir mögen runde, stimmige und möglichst konkrete Geschichten. Das ist für uns viel leichter zu verdauen, als abstrakte und komplizierte Sachverhalte. Noch schlimmer: Phänomene, die nicht Schwarz-Weiss, Entweder-oder, sondern heterogen und Sowohl-als-auch sind. Das mögen viele Menschen gar nicht. Die meisten Dinge sind aber heterogen, und viele dummerweise obendrein noch komplex. Das heißt, sie haben verschiedene Facetten. Wenn man ihnen gerecht werden will, dann muss man differenzieren und den einen Aspekt von einem anderen unterscheiden. Das bedeutet keineswegs, dass man nicht zu eindeutigen Aussagen kommen kann. Aber diese eindeutigen Aussagen sollten auf einer sorgfältigen, ergebnisoffenen (vorurteilsfreien) und eben differenzierten Analyse beruhen.

In der Politik und den Medien sind allerdings konkrete Begebenheiten sehr beliebt, um damit allgemeine Meinungen und Schlussfolgerungen zu begründen oder zumindest zu untermauern. Kein Politiker, der in einer Diskussionssendung nicht schon zu dieser wirksamen Beweisführung gegriffen hätte. «Auf der Fahrt ins Fernsehstudio habe ich den Taxifahrer gefragt, und er der hat mit darauf

[irgendeine Aussage, die dem Politiker in den Kram passt] erzählt». Gestern habe ich mit einem Handwerkmeister gesprochen und der hat mir [irgendeine Aussage, die dem Politiker in den Kram passt] erzählt. Letzte Woche war ich an diesem Anlass/an jenem Ort und dort habe ich gesehen, dass/haben mir die Leute erzählt, dass [irgendeine Aussage/Beobachtung, die dem Politiker in den Kram passt].

Lassen wir einmal dahingestellt, ob die zahlreichen Taxifahrer und Handwerksmeister tatsächlich existierten bzw. die zitierten weisen Worte so gesagt wurden. Sicher ist jedenfalls die Aussagekraft solcher Zitate gering. Denn es ist unklar, wie repräsentativ die zitierte Person für ihren Berufsstand ist. Möglicherweise sind es ja hier die vorlauten Vertreter, die in solchen Zitaten zu Wort kommen und deren Meinung anders ausfällt als die der großen Zahl ihrer zurückhaltenden Kollegen. Zudem kann man sicher sein, dass Politiker und Experten nur diejenigen Taxifahrer und Handwerksmeister zitieren, deren Aussagen sie gut verwenden können. Die anderen Taxifahrer und Handwerksmeister werden mangels Verwertbarkeit ihrer Aussagen gar nicht erst erwähnt.

Eine ähnliche Grundproblematik besteht für konkrete Ereignisse und Einzelfälle, die als Beleg für Meinungen, Schlussfolgerungen oder Forderungen verwendet werden. Aber Politik und Medien lieben konkrete Ereignisse und Einzelfälle. Denn es handelt sich meist um Phänomene, die leicht verständlich sind und mit denen man zuverlässig Emotionen auslösen kann. Gerade Einzelfälle kommen unserem Bedürfnis nach klaren Interpretationen, eindeutigen Aussagen, also der Tendenz zum Entweder-oder, zum Schwarz oder Weiß sehr entgegen. Deswegen liegt die Instrumentalisierung von Einzelfällen sehr nahe.

Man kann das unter anderem gut anhand der politischen und öffentlichen Diskussion zu Kriminalfällen veranschaulichen. Am 29. Juli 2019 stiess ein Flüchtling aus Eritrea im Frankfurter Hauptbahnhof eine Mutter und ihren 8jährigen Sohn vor einen einfahrenden ICE Zug. Die Mutter konnte sich in letzter Not gerade noch retten, das Kind wurde getötet. Ein grauenhaftes Verbrechen. Vor allem Rechtspopulisten sahen in dieser Tragödie einen Beleg für eine verfehlte Ausländerpolitik. Liberale und Vertreter des linken Spektrums widersprachen dieser pietätslosen Instrumentalisierung. Denn der psychiatrisch kranke Täter hatte unter anderem einen ausgeprägten Verfolgungswahn, durch den er die Realität in absurder Weise verzerrte. Das macht die Tat nicht weniger schlimm. Aber es hat nichts mit seiner Nationalität oder mit der Flüchtlingspolitik zu tun. Solche psychiatrischen Erkrankungen treten in allen Nationalitäten mit einer ähnlichen Häufigkeit auf (Wulf Rössler nennt zum Beispiel eine Inzidenzrate von 0.6-1.0% und eine Prävalenzrate von 1.0-1.5% - vgl. Wulf Rössler: Epidemiologie der Schizophrenie, 2011).

Als Tobias Rathjen am 19.Februar 2020 neun Personen, danach seine Mutter und sich selbst erschoss, konnte man genau dasselbe Spiel nur mit umgekehrten Rollen beobachten. Jetzt traten Vertreter des liberalen und linkspolitischen Spektrums auf dem Plan und sahen in dem Massenmord die Tat eines Rechtsextremisten. Die Tat sei ein weiterer Beleg für das Problem des Rechtsextremismus und für die damit verbundenen Gefahren in Deutschland. Manche Kommentatoren gingen sogar so weit, der AfD in Deutschland eine Mitverantwortung für dieses fürchterliche Verbrechen zu geben. Rechtsextremismus ist ein Problem, ist gefährlich, hat in Deutschland zu einer Vielzahl von Gewalttaten geführt und muss konsequent bekämpft werden.

Auch Tobias Rathjen war ein psychiatrischer kranker Mensch mit einem ausgeprägten Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn. Er hatte u.a. das Gefühl, dass dunkle Mächte einen direkten Zugriff auf sein Gehirn hätten und seine Gedanken steuern und beeinflussen könnten. Sein wahnhaftes Erleben war zwar in extremer Weise durch rassistische Inhalte geprägt. Diese waren aber so weit von jeder Realität entfernt, dass sie keinen Bezugspunkt zu einem realen politischen Programm oder irgendeiner noch so extremen politischen Richtung gehabt hätten. Sie waren Ausdruck einer psychiatrischen Symptomatik, die von der Realität abgekoppelt war. Ihn als einen Vertreter des Rechtsextremismus anzusehen, ist falsch. Das ist so, als wenn man das Christentum dafür verantwortlich machen würde, wenn ein psychiatrischer Patient, der in einer religiös geprägten Wahnwelt lebt, Menschen umbringt, weil er in ihnen die leibhaftige Inkarnation des Teufels erkennt.

Interessanterweise traten hier nun Repräsentanten des rechten politischen Spektrums dafür ein, dass man den Einzelfall differenziert betrachten und aus ihm nicht einfach unzulässige allgemeine Schlussfolgerungen ableiten dürfe. Wie wahr, wie wahr. Allerdings darf man gespannt sein, ob dieser Grundsatz auch dann gilt, wenn es zu einem Verbrechen kommt, dass sich dankbar in der anderen Richtung instrumentalisieren lässt.


Es ist schlecht, wenn die politischen Kräfte, die sich gegen Populismus und Extremismus wenden, die gleichen Methoden verwenden wie die von ihnen kritisierten Populisten und Extremisten. Die fürchterlichen Tötungsdelikte von Hanau eignen sich nicht als Beleg für die Gefahren des Rechtsextremismus. Wenn man die Tat in dieser Weise instrumentalisiert, dann macht man das Gleiche, das man den rechten Populisten bei der Tat von Frankfurt zu Recht vorgeworfen hat. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass man sich nicht nur in den Inhalten, sondern auch in den Methoden von Populisten und Extremisten unterscheiden sollte. Leider ist diese Grenze aber bei weitem nicht so klar, wie sie sein sollte, sondern es gibt (viel zu) oft fliessende Übergänge.


Hier wieder einige Quellen zur Vertiefung des Themas:


  1. Zur Tat in Hanau 2020:

    1. Tagessschau Schweizer Fernsehen:



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