Es ist nicht Aufgabe eines Gutachters, Sachverhaltswürdigungen vorzunehmen. Eine Sachverhaltswürdigung ist zum Beispiel die Frage, ob eine Aussage glaubhaft oder gelogen ist oder ob eine Tat rechtlich als Mord oder als Totschlag einzuordnen ist. Solche Abwägungen und die daraus folgenden Bewertungen sind juristischer Natur. Es sind also rechtliche Würdigungen, die letztlich allein in den Kompetenzbereich des Gerichts fallen.
Der Zusammenhang zwischen forensischen Bewertungen wie zum Beispiel Risikobeurteilungen und rechtlichen Sachverhaltswürdigungen ist nicht regelhaft, sondern hängt von den spezifischen Bedingungen des Einzelfalls ab. Häufig können zentrale gutachterliche Bewertungen (zum Beispiel Risikobeurteilung, Therapieempfehlungen oder Schuldfähigkeitsbeurteilungen) weitgehend unabhängig von detaillierten rechtlichen Sachverhaltswürdigungen vorgenommen werden. So können solche Schlussfolgerungen oft allein auf der Grundlage der hypothetischen - und letztlich durch das Gericht zu beurteilenden - Annahme vorgenommen werden, dass von der Täterschaft des zu Beschuldigten auszugehen ist. Das heißt, der Gutachter geht bei einem nicht geständigen Täter davon aus, dass der Tatvorwurf stimmt und er - trotz des fehlenden Geständnisses – die Tat begangen hat. Für den Gutachter ist das nur eine Hypothese. Er hat nicht zu beurteilen, ob diese Hypothese stimmt oder nicht. Er darf sich nicht einmal dazu äussern, ob er es als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ansieht, dass die beschuldigte Person die Tat tatsächlich begangen hat. Die Bewertungen des Gutachtens sind also nur dann zutreffend, wenn die Hypothese (der Beschuldigte ist der Täter) zutrifft. Ob sie zutrifft, ob also der Beschuldigte verurteilt wird, entscheidet aber allein das Gericht.
Es gibt aber auch Fälle, in denen bestimmte Sachverhaltsbewertungen einen Einfluss auf alle oder einige der vorzunehmenden forensischen Bewertungen haben. In solchen Fällen muss der Gutachter solche unterschiedlichen Sachverhaltsbewertungen als gleichrangig darzustellende Hypothesen darlegen. Allenfalls muss er dann bestimmte Bewertungen als Varianten in Abhängigkeit von den jeweiligen Hypothesen diskutieren.
Ein Beispiel:
Ein Wanderer wird von einem schweren Stein am Kopf verletzt und stirbt. Die Ermittlungen ergeben, dass dieser Stein von einem Felsvorsprung herabgefallen ist, der sich 50 m über dem Wanderer befunden hat. Im Zuge der Ermittlungen meldete sich ein anderer Wanderer, der just im Moment des Unglücks von einer weit entfernten Stelle mit seiner Videokamera das Bergpanorama aufgenommen hat. Bei der Auswertung dieses Films entdeckte man auf dem Felsvorsprung eine Person, bei der es so aussah, dass sie den Stein absichtlich nach unten geworfen hat. Die Person wurde identifiziert und es wurde ein Ermittlungsverfahren wegen eines Tötungsdelikts eröffnet. Der Beschuldigte räumte seine Anwesenheit auf dem Felsvorsprung ein. Er erklärte aber, er habe aus Gedankenlosigkeit gegen Steine getreten und sie den Abhang herunterrollen lassen. Das sei sicherlich ein Fehler und fahrlässig gewesen. Ihm sei aber gar nicht in den Sinn gekommen, welche Folgen das haben könne. Jedenfalls habe sich dann der Felsbrocken gelöst und zu den fatalen Folgen geführt. Er sei schockiert und leide stark unter dem Vorfall. Es handle sich aber eindeutig um einen Unfall und er würde alles tun, könnte er das alles rückgängig machen. Der Staatsanwalt hält das für eine Ausrede, zumal sich bei den Ermittlungen ergaben, dass sich der Beschuldigte und das Opfer kannten. Zwar liegt das Motiv im Dunkeln, der Staatsanwalt glaubt aber nicht an ein zufälliges Zusammentreffen.
Es liegt auf der Hand, dass sich die Risikobeurteilung dieser Person unterscheidet, in Abhängigkeit davon, ob man von einem gezielten Tötungsdelikt (Variante 1) oder von einer folgenschweren Gedankenlosigkeit (Variante 2) ausgeht. Auch bei der Gedankenlosigkeit stellt sich zwar die Frage, ob der Beschuldigte systematisch Risiken unterschätzt und häufig gefährliche Dinge macht, deren Folgen er nicht bedenkt. Also auch bei diesem Sachverhalt ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass von der Person eine Gefahr zum Beispiel beim Führen eines Fahrzeugs oder in anderen Situationen ausgeht. Es handelt sich hier aber um eine komplett andere Ausgangslage im Vergleich zu einem Sachverhalt, bei dem man von einer gezielten Tötung ausgehen müsste.
Es ist nicht Aufgabe des Gutachters, sich dazu zu äußern, welcher Sachverhalt zutrifft und ob der Beschuldigte die Wahrheit sagt oder ob er lügt. Das zu beurteilen, ist allein Sache des Gerichts.
Der Gutachter arbeitet also unter der Hypothese, was wäre wenn … und baut darauf seine Schlussfolgerungen aus. Die Schlussfolgerungen (zum Beispiel die Beurteilung des Risikos, der Schuldfähigkeit oder die Empfehlung von risikosenkenden Maßnahmen) sind dann hinfällig, wenn das Gericht zum Schluss kommt, dass der Täter fälschlicherweise beschuldigt wurde.
Im vorliegenden Fall geht der Gutachter also zunächst einmal davon aus, dass der Vorwurf des Staatsanwaltes zutrifft. Das heißt, der Gutachter legt die Sachverhaltshypothese zugrunde, die dem offiziellen Auftrag des Staatsanwalts entspricht. In unserem Beispielfall ist das die Annahme, dass der Beschuldigte das Opfer gezielt umgebracht hat.
Es gibt hier aber eine davon völlig abweichende Sachverhaltsvariante, wenn man den Aussagen des Beschuldigten folgt. Wenn sich wie in diesem Fall also Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine ganz andere Sachverhaltsvariante zutreffen könnte und diese Sachverhaltsvariante zu anderen Schlussfolgerungen des Gutachters führt, dann kann/sollte der Gutachter auch diese alternative Sachverhaltsvariante in seinem Gutachten darstellen. Er würde also eine zweite Hypothese, was wäre wenn … darstellen und dann unter dieser Annahme - seine dann veränderten - Schlussfolgerungen herleiten und darlegen.
Es ist sehr wichtig, dass der Gutachter hierbei sorgfältig und sehr transparent vorgeht. Das heißt, er muss die Sachverhaltsvarianten sauber trennen und dann jeweils separat seine Schlussfolgerungen und die Gründe für seine Bewertungen darlegen.
Allenfalls kann er Bewertungen aus der gutachterlichen Perspektive benennen, die für die Plausibilität der einen oder der anderen Variante sprechen. Er wird das dann zum Beispiel mit folgenden Formulierungen tun:
„Es gibt im Leben des Beschuldigten viele Ereignisse, in denen er den „Kick“, die Stimulation, den Nervenkitzel und das Risiko sucht. Dabei ist es schon oft zu riskanten Situationen gekommen, die zu Unfällen, Selbstverletzungen oder zu Verletzungen von fremden Personen geführt haben. Dieser Befund wäre mit der Sachverhaltshypothese 2 gut zu vereinbaren.“
Oder:
„Die während der gutachterlichen Untersuchung widersprüchlichen Aussagen zum Tatgeschehen könnten Ausdruck eines verdeckenden Aussageverhaltens sein.“
Der Gutachter kann also aus seinen Beobachtungen, seinen Befunden und Schlussfolgerungen plausible Verknüpfungen zu den verschiedenen Sachverhaltsvarianten vornehmen. Er darf aber nie die Grenze überschreiten und eine Aussage zur rechtlichen Einordnung der Sachverhalte machen. Das heißt konkret, dass beispielsweise solche Sätze verboten sind:
„Aus gutachterlicher Sicht trifft die Sachverhaltsvariante 1 zu.“
Oder:
„Aus gutachterlicher Sicht ist die Wahrscheinlichkeit für das Zutreffen der Sachverhaltsvariante 1 größer als für die Sachverhaltsvariante 2.“
Für Leserinnen und Leser, die mit der Arbeit eines Gutachters und dem Strafprozess nicht vertraut sind, dürfte das alles sehr theoretisch klingen. Es ist der Praxis aber ein wichtiges Thema. Denn es kommt hier immer wieder zu Fehlern, indem Gutachter sich dieser Grenze nicht bewusst sind und sie überschreiten.
Im BLOG ist an anderer Stelle ein Fall dargestellt, bei dem ich mich der roten Linie der rechtlichen Sachverhaltsbewertungen außergewöhnlich stark annähern musste (siehe: Zwei ermordete Zwillingskinder: War es der Vater oder die Mutter?).
Aber auch hier war die Grenze klar. Ich hätte mich nicht dazu äußern dürfen, welcher der beiden Beschuldigten die Tötung begangen hat oder welche der beiden im Raum stehenden Sachverhaltsvarianten ich für wahrscheinlicher gehalten hätte. Allerdings ergaben die Gutachten über Vater und Mutter in diesem Fall einen sehr klaren Befund. Für eine der beschuldigten Person konnte ein plausibler Deliktmechanismus dargelegt werden, für die andere Person nicht. Selbstverständlich dürfte dieser gutachterliche Befund auch durch das Gericht zur Kenntnis genommen und berücksichtigt worden sein. Das ist auch legitim. Der Gutachter selbst darf sich aber nicht dazu äußern, ob er einen Beschuldigten für schuldig oder unschuldig hält. Das liegt allein in der Kompetenz des Gerichts.
Nachfolgend ein Fall, in dem die geschilderte Problematik eine Rolle spielte:
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